Missbrauch oder Penis-Neid?
Sexueller Missbrauch oder Penis-Neid? Was war nun wirklich die Ursache für
die „weibliche Hysterie“, die Sigmund Freud in unzähligen
Patientinnen-Gesprächen erforschte? Und warum widerrief Freud 1897 seine
ursprüngliche Missbrauchs-Theorie? Darüber spekuliert Terry Johnson in seinem
Theaterstück Hysteria.
Tatsächliche Aufklärung könnten vielleicht Briefe geben, die Freud an
seinen Freund, den HNO-Arzt Wilhelm Fließ, schrieb - und die bis heute
strengstens unter Verschluss sind. Sexueller Missbrauch in der Familie ist erst
seit 15 Jahren wieder ein gesellschaftliches Thema. Und bis heute müssen sich Frauen
mit ihrer aus dem angeblichen Penis-Neid kommenden „Minderwertigkeit“
auseinandersetzen…
Terry Johnson, 1955 in Großbritannien geboren, konfrontiert in „Hysteria“
Sigmund Freud (stilecht: Peter Faerber) mit seinem Gewissen.
Als immer wiederkehrenden Alptraum lässt Johnson Freud die junge Jessica
erscheinen. Monica Anna Cammerlander lässt konsequent nie Zweifel aufkommen: Es
gibt ihn, den sexuellen Missbrauch durch die (Groß)Väter.
Durch Freuds Alptraum geistert auch der Maler Salvador Dalí. Carl Achleitner
reizt - als Personifizierung von Freuds (verdrängter?) Eitelkeit - diese bis
zur Lächerlichkeit aus.
Denn ein Grund für die Abkehr von der Missbrauchs-Theorie ist für Freud wohl
die Ablehnung im Kollegenkreis gewesen.
Doktor Yahuda (schwarz und streng inmitten aller bunten Verwirrung: Willy
Höller) personifiziert wohl Freuds Über-Ich. Vor ihm will Freud lange Zeit
seine „unliebsamen Gäste“ geheim halten.
Am Ende landet Freud selbst auf der Couch. Terry Johnsons Theorie: Freud konnte
die Erinnerung an eigene Missbrauchs-Erlebnisse in der Kindheit nicht ertragen,
tat alles, um seinen Vater zu schützen, und verwandelte daher die
Missbrauchs-Theorie in die Penisneid-Theorie.
Johnson schrieb also ein hochkompliziertes vielschichtiges Stück mit ernster
Thematik. Er verzichtet dabei aber auch über weite Strecken nicht auf
ur-komödiantische Dialoge und Blödel-Szenen. In der Inszenierung von Rüdiger
Hentzschel gelingt ein absolut perfekter, spannender, emanzipatorischer (und
bejubelter) Theaterabend auf der Mödlinger Bühne. Da passt einfach alles - vom
Bühnenbild bis zur kleinsten Pointe. Man lacht Tränen und erschrickt zu Tode.
Extrem empfehlenswert!
Gabi Stockmann / Badische Rundschau 6.12.2007 |